Und dann, eine Stunde später, ist sie da: Meine Mutter, die nächstes Jahr 78 wird und für ihr Alter noch sehr fit ist. Und der Fotograf und ich – wir sind auch da. Ich stehe an den Pfosten gelehnt, an dem an der Ecke Merowingerstraße/Karolingerstraße das Düssel-Schild befestigt ist. Dieses Düssel-Schild ist ein besonderes. Es ist das einzige Düssel-Schild in Düsseldorf, das so tief hängt, dass man sich gemeinsam mit ihm fotografieren lassen kann.
Der Fotograf sagt, ich solle während der Foto-Session nicht sprechen, sondern einfach auf den Bereich neben ihm gucken – dorthin, wo früher mal Data Becker war. Ich aber muss sprechen. Denn: Meine Mutter, die mit Hund und Hut – rein „zufällig“ – neben mir an der Ampel steht, damit das Fotografier-Ergebnis wie eine zufällige Straßenszene aussieht, schafft es nicht, sich „zufällig“ zu benehmen. Immer wieder dreht sie sich neugierig um, beobachtet mich und den Fotografen.
„Mama, nach vorne gucken, auf die Ampel an der anderen Straßenseite!“, sage ich.
„Aber die ist doch grün“, sagt meine Mutter und wirkt dabei wie eine Marathonläuferin in den Startlöchern.
„Egal“, sage ich, „bleib einfach stehen, gleich wird sie ja wieder rot.“
Nach ein paar Ermahnungen gelingt meiner Mutter das „Zufällig“-an-der-Ampel-Stehen doch noch. Ich weiß: Es fällt ihr schwer – genauso wie ihrem Hund, der trotz „Ausgehanzug“ vor Kälte zittert und nichts lieber will, als auf der anderen Straßenseite die An-der-Düssel-Runde fortzusetzen. Markieren statt frieren.
Ich stehe also an der Ampel, neben dem Pfosten mit dem Düssel-Schild. Und ehrlich gesagt ist die „zufällige Straßenszene“, die wir kreiert haben,
natürlich alles andere als wirklich zufällig. Im Grunde genommen ist meine Mutter nur dazu da, damit das „Gar-nicht-Zufällige“ auf dem Foto zumindest ein Bisschen nach „zufällig“ aussieht. Keiner würde sich zufällig mehr als zwei Sekunden unter ein Schild mit der Aufschrift „Düssel“ stellen. Und genau darum geht es hier ja auch: Weil ich ein Blog namens Düssel-Flaneur betreibe und eine Art „Düssel-Symbolfoto“ haben wollte, habe ich dem Fotografen ganz bewusst diese Ecke als Foto-Kulisse vorgeschlagen. Und dann meine Mutter als Statistin engagiert.
Wobei: So richtig stimmt das ja auch nicht. Eigentlich stimmt es gar nicht. Na ja, ein wenig stimmt es schon. Okay, ich befürchte, jetzt ist der Moment gekommen, wo ich mich als „unzuverlässiger Erzähler“ outen muss: Die Frau mit Hund, die auf dem Foto neben mir zu sehen ist, hat sich nämlich weder umgedreht, noch haben wir uns unterhalten. Sie ist keine gebriefte Statistin, und sie ist auch nicht meine Mutter. Das alles habe ich erfunden. Denn wenn ich schon meine „Ich poste keine Fotos von mir auf facebook“-Regel breche, möchte ich als „Bonus“ zu dem Posting wenigstens noch eine kleine Geschichte erzählen. Das macht ja sonst keinen Spaß! Die Wahrheit ist: Die Frau mit Hund und Hut stand – rein zufällig – für eine Rot-Phase an der Fußgängerampel, und deswegen sieht man sie auf dem Foto. Ich kenne sie nicht, und wenn sie tatsächlich nächstes Jahr 78 werden sollte, dann wäre das ein Riesenzufall.
Vermutlich ist dieser Text aus mir herausgeflossen, weil ich es durch mein Blog gewohnt bin, „Lügengeschichten“ zu erzählen: In Düssel-Flaneur lasse ich einen Ich-Erzähler (der nicht mit mir identisch ist, auch wenn viele Leser das glauben) und seinen besten Freund P. (den es nicht gibt, denn ich flaniere in der Regel alleine) am bekanntesten unbekannten Fluss Deutschlands entlang spazieren. “Dokufiktion“, genau wie die oben beschriebene Fotografier-Szene. Was stimmt: Meine Mutter wird tatsächlich nächstes Jahr 78, und sie ist tatsächlich sehr fit für ihr Alter. Allerdings ist sie nicht neugierig, und sie trägt auch keine Hüte – sie hat nicht einmal einen Hund.
Den Fotografen gibt es wirklich. Er heißt Markus Luigs, viele Düsseldorfer kennen ihn durch sein Foto-Blog Düsseldorfer Perlen, und auf meinen Wunsch hin hat er heute ein paar Fotos von mir gemacht. Um Schnappschüsse mit offenem Mund zu vermeiden, hat er mich tatsächlich gebeten, während der Foto-Session nicht zu sprechen. Unterhalten haben wir uns aber trotzdem. Danach. Um die Ecke. Im Caffé Enuma. Beim Mittagessen.
Dieser Text erschien zuerst auf dem Facebook-Profil von Düssel-Flaneur-Autor Sebastian Brück. Auch dort gerne liken und teilen 🙂