Wie der Familienalltag ein Blog bremst / Was Tocotronic an der Düssel verloren haben / Und wie man ans Tor3 denkt und sich alt fühlt.
Ich muss dir was gestehen.“ Das sind die ersten Worte, die ich zu meinem besten Freund P. sage, als wir uns zur heutigen Düssel-Flanier-Etappe treffen. Düsseldorf-Bilk, Karolingerstraße, Ecke Planetenstraße. Wir stehen am Ufer und schauen auf eine Brücke, die von einem Grafitti-Augen-Paar beobachtet wird.
„Brücke“ ist relativ, denn eigentlich ist es nur der Eingang in eine Röhre, die unser Flüssschen in einer sehr scharfen und langen Kurve direkt unter den Häusern der Karolingerstraße herleitet, bis es da ankommt, wo wir ihm bei unserer letzten Etappe nicht mehr folgen konnten.
„Was willst du mir gestehen?“, fragt P.
„Hast du deiner Frau von unserem geheimen Mittagspausen-Hobby erzählt?“
„Ja“, sage ich. „Und deinen Arbeitskollegen ebenso. Die sind begeistert!”
In P.´s Augen sehr ich für einen Sekundenbruchteil Erschrecken aufblitzen, dann versteht er den Scherz. Seine Coolness: Sein wunder Punkt.
„Nein, Quatsch“, sage ich, als müsste ich ihn aufklären. „Wir müssen erneut eine Pause mit dem Blog machen. Ich schaffe es momentan zeitlich einfach nicht mehr. Zu viel Arbeit, zu viele Termine, dazu der Familienalltag.“
„Hauptsache es geht irgendwann weiter. Und was machen die Leserzahlen?“
„Schon lange nicht mehr zweistellig, noch lange nicht vierstellig.“
„Und wie kann man das ändern?“
Ich zucke die Achseln. „Einfach weiterflanieren und weiterschreiben, nach der Pause.“
Inzwischen stehen wir vor dem Brückengeländer und schauen auf eine weitere Düssel-Brücke, etwa fünfzig Meter entfernt, diesmal eine richtige.
Mein bester Freund P. studiert auf seinem iPhone Google Maps und dreht sich nach rechts um. „Der Laden ist auch eingezeichnet.“ Er deutet auf die Planetenstraße 1, wo sich ein Atelier für maßgeschneiderte Braut- und Abendkleider befindet. „So wie es aussieht, fließt die Düssel genau unter diesem Laden durch.“
„Schau mal, wie die Inhaberin mit Nachnamen heißt“, sage ich.
P. begutachtet das Ladenschild: „Genauso wie dieser bekannte Blogger.“
„Ob die verwandt sind?“, frage ich.
„Wohl kaum, wäre ein Riesenzufall“, sagt P. “So ausgefallen ist der Name ja nun auch wieder nicht.“
„Komm, lass uns mal losspazieren“, sagt P. – und wir folgen der Düssel bis zur nächsten Brücke.
Dort steht eine Straßenlaterne im 20er-Jahr-Stil, zumindest wirkt sie so.
Die Straßenlaterne ist sehr schön, und während ich sie fotografiere, hat P. schon längst wieder sein iPhone um Rat gefragt: „Die Backsteinhäuser hier sehen alle gleich aus, und jetzt weiß ich, warum.“ Er zitiert: „Karolingerstraße/ Merkurstraße/ Planetenstraße. Die Wohnbauten in den genannten Straßen prägen das Ortsbild von Düsseldorf-Bilk in hohem Maße. Sie gehören gleichzeitig zu den herausragendsten Beispielen gemeinnützigen Wohnungsbaus in Düsseldorf. Sie wurden in den Jahren 1927/28 für den Arbeiterbauverein „Freiheit“ errichtet.“
„Woher hast du das?“, frage ich.
„Aus einer Doktorarbeit über Backsteinarchitektur der 1920er Jahre in Düsseldorf.“
„Und die kann man online nachlesen?“
„Komplett!“
„Das hat wenigstens einen Sinn – also eine Doktorarbeit zu schreiben, meine ich.“
„Wie jetzt!?“, fragt P. „Das hört sich so, als hätte das, was wir gerade machen, keinen Sinn.“
„Na ja, einen Doktortitel werden wir dafür nicht bekommen.“
„Aber wir werden die ersten sein, die eine Düssel-Wanderung von der Rhein-Mündung bis zur Quelle dokumentiert und dabei auch die ans Düssel-Ufer grenzenden Schulhöfe gezählt sowie schräge und lustige Kneipennamen in Düssel-Nähe eingesammelt haben …”
P. gibt mir einen ironischen Boxhieb auf die Schulter.
„Hmm“, mache ich – und fühle, dass ich heute einen der zwei bis drei Tage im Jahr erwischt habe, an denen ich andauernd über Sinnfragen stolpere.
P. setzt sein leicht arrogantes P.-Versteher-Grinsen auf: „Ach so, du fragst dich mal wieder nach dem Sinn des Lebens, ja?“ Er stützt sich mit beiden Händen aufs Brückengeländer und beginnt zu singen, und ich muss dazu sagen, dass P.´s Stimme ziemlich gut klingt und er sogar mal ernsthafte musikalische Ambitionen mit einer Band hatte (inklusive TV-Auftritt im dritten Programm) – bis er seine Frau kennen lernte und Vater wurde.
„Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möcht mich auf euch verlassen können
Ich möcht mich auf euch verlassen können
und jede unserer Handbewegungen
hat einen besonderen Sinn
weil wir eine Bewegung sind
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
Ich möcht mich auf euch verlassen können
Lärmend mit euch durch die Straßen rennen
Und jede unserer Handbewegungen
hat einen besonderen Sinn“
Ich schaue mich um, kein Mensch auf der Straße außer uns. Keiner hat von P.´s Mini-Konzert Notiz genommen. Noch haben wir keine Jugendbewegung losgetreten. Mir schwirren Erinnerungen an ein Tocotronic-Konzert im Tor3 durch den Kopf. „Wann haben wir die zum ersten Mal live gesehen?“
„November 1996!“ P. schießt das Datum aus seinem Mund. Während ich die Band eher unter „ganz interessant“ einordnen würde, sind Tocotronic für P. die Helden seiner Jugend – obwohl, oder vielleicht gerade weil, er heute ganz andere Musik hört. Als wir sie letzets Jahr noch mal im Zakk – um die Ecke vom Tor3, das längst nicht mehr für Konzerte genutzt wird – live gesehen haben, lag ein Dauergrinsen auf P.´s Gesicht.
„Alter, das ist es!“, sagt P. und knallt mir seine Hand auf die Schulter. „Ich hab den Slogan: Walk your local river! Wir müssen aus dem Flanieren eine Jugendbewegung machen. Jeder junge Mensch soll den Fluss in seiner Heimatstadt oder in seinem Heimatort einmal von der Mündung bis zur Quelle begleiten.“
„Mann, wir sind doch nicht mehr 22 wie damals! Wir sind fast 40! Und was soll die bekloppte Idee überhaupt?“
„Scheiß egal, ob man jung ist, hat nichts mit dem Alter zu tun. Da geht’s um ein neues Lebensgefühl, sich mal ausklinken zwischendurch. Etwas vermeintlich Sinnloses mit einem klar definiertem Ziel machen. Wer hat denn heute schon Ziele, die nicht mit materiellen Dingen zusammenhängen?!“
Ich schaue P. an, und obwohl ich ihn schon ewig kenne, bin ich mir nicht sicher, ob er seinen Ironie-Modus in diesem Moment komplett ausgeschaltet hat. Meint P. das wirklich ernst? Ich kann mich durchaus an das eine oder andere materielle Ziel in seinem Leben erinnern …
Fortsetzung folgt …