(#20) Kinder statt Tinder

in Düsseldorf

Wie wir unbekannte Düssel-Ufer entdecken / Wie man den Jürgen Rüttgers Creativity Award nicht gewinnt / Und wie die Harffstraße auf ihre Gartentrampolinisierung wartet.

Mann, ist das heiß!“, sage ich zu meinem besten Freund P., und für einen Moment wünsche ich mir, wir wären an der Karolingerstraße. Dort, wo wir bereits vor einiger Zeit die Düssel entlang flaniert sind, wäre es jetzt schattig – und, ich übertreibe bewusst, nicht halb so heiß wie hier. Hier: Das ist Düsseldorf-Wersten – laut Wikipedia „ein traditionelles Arbeiterwohnviertel, das allerdings nicht zuletzt durch den Bau des Werstener Autobahntunnels Ende der 1980er Jahre eine deutliche Aufwertung erfahren hat.“ Als ob traditionelle Arbeiterviertel nur darauf warten würden, dass sie keine traditionellen Arbeiterviertel mehr sind …

Mein bester Freund P. schüttelt den Kopf und macht mit seinem iPhone ein Foto vom „Düssel“-Schild, das am Rande der Kölner Landstraße auf unser Flüsschen hinweist.

Offenbar hat die Stadt diese Schilder nicht nur in Bilk, sondern überall dort aufgestellt, wo die Düssel eine Straße unterquert. Auf der anderen Straßenseite ist der Endpunkt unserer letzten Etappe zu sehen: die Franz-von-Sales-Kirche, neben der die Düssel in einem Tunnel verschwindet. Wobei: Eigentlich ist es genau anders herum.  Sie kommt dort aus einem Tunnel heraus, in dem sie 30 Meter weiter flussaufwärts verschwunden ist – und zwar genau hier, unter dem Geländer, an dem wir in diesem Moment stehen. Notiz im Hinterkopf: immer in Fließrichtung denken und schreiben!

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Während wir die sonnendurchflutete Düssel beobachten, folgt die verbale Fortsetzung von P.´s Kopfschütteln: „Du willst dich über das Wetter beschweren?! Du, der sich wochenlang einen richtigen Sommer herbeigewünscht hat?“

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Mein innerer Kritiker hat dem nichts entgegen zu setzen. Wenn P. mir ein schlechtes Gewissen einreden will, dann hat er gewonnen. Übers Wetter zu motzen, ja bereits darüber zu sprechen, kommt mir plötzlich vollkommen spießig vor. Noch schlimmer, ja wirklich erbärmlich wäre es, mit dem Thema „Wetter“ in einen Blogpost einzusteigen. Ich winke ab – „Hast ja recht!“ – und sage (trotzdem und obwohl das wiederum vollkommen übertrieben ist!): „Ich sollte mich freuen, dass mir bei 37 Grad das T-Shirt an der Haut klebt, als hätte ich angezogen gebadet.“

Wir biegen in den Fußgängerweg ein, der stromaufwärts am rechten Düssel-Ufer entlang verläuft. Stop! Hätte ich jetzt in Fließrichtung gedacht und geschrieben, so wäre nicht vom rechten, sondern vom linken Düssel-Ufer die Rede. Ganz schön schwierig, das alles. Und nervend! Ich lösche die eben gemachte Notiz wieder aus meinem Hinterkopf. Sollen die Blog-Leser doch auf die Google-Maps-Karte gucken, die wir bei jedem Posting einbinden, wenn sie die Orientierung verlieren. Jawohl!

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In einer langgezogenen Kurve folgt die Düssel samt Spazierweg dem Verlauf der Harffstraße.

„Alter, jetzt wird’s spannend“, freut sich P. „Auf zu neuen Düssel-Ufern! Diese Straße da drüben bin ich noch nie im Leben langgefahren, und diesen Weg …“, er zeigt mit dem Finger unsere Flanierrichtung an, „ … den betrete ich heute zum ersten Mal.“ Natürlich ist P.,der Berufszyniker, in Wirklichkeit nicht ganz so euphorisch wie er vorgibt – aber ein Bisschen eben schon.

Über mein Smartphone verrät uns Google Maps derweil, was keiner wissen will wir verpassen: Auf der anderen Düssel-Seite residieren mehrere Autohändler, eine Aldi-Filiale, eine School of Islamic Sufism, eine Kampfkunstschule, ein Tantra-Massage-Studio sowie diverse Handwerksbetriebe.

„Mach jetzt keine Witze über Tantra-Massagen oder so“, sage ich.

„Ziemlich spirituelles Umfeld“, sagt P. und grinst sein möchtegern-überlegenes P.-Grinsen. „Erst den Wagen zur Reparatur abgeben, dann in Sufismus schulen lassen, gefolgt von einem Einkauf bei Aldi. Als nächstes die Aldi-Aggressionen bei Jiu Jitsu und einem Tantra-Höhepunkt wieder abbauen – und zu guter Letzt die Karre wieder abholen.“

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„Wahrscheinlich reißen die in 20 Jahren das ganze Gewerbegebiet ab“, sage ich. „Und dann bauen sie hier so ein Reihenhaus-Viertel wie das, wo du wohnst, und geben dem Projekt einen verkaufsträchtigen Namen. Familienfreundlich wohnen in den Düssel-Höfen, Fluss-Blick inklusive. Und dann siehst du dort drüben am anderen Ufer keine hässlichen Rückfronten oder Mauern mehr, sondern kleine Gartenparzellen, in denen die Kinder auf Trampolinen springen und die Väter den Grill anschmeißen, sobald die Sonne rauskommt.“

„Momentan ist nicht viel mit Fluss-Blick“, sagt P. und deutet auf die Düssel, die von alten Bäumen und hohem Gras und Gestrüpp gesäumt ist, so dass wir das Wasser nur erkennen können, wenn wir vom Spazierweg abweichen und näher ans Ufer treten. „Abgesehen davon schreitet die Gartentrampolinisierung in unserem Viertel immer weiter voran“, fährt P. fort, „ich habe mich ja lange dagegen gewehrt, aber vor zwei Wochen haben wir auch eines gekauft.“

„Und?“

„Na ja, manchmal ist das schon praktisch. Besser du schickst die Kids zum Hüpfen als vor die Glotze.“

Wir folgen dem Weg und nähern uns einer Holzbrücke. Hier ist das Flüsschen mindestens doppelt so tief wie gegen Anfang unserer heutigen Etappe, dafür aber auch nur halb so breit. Man müsste nicht mal sportlich sein, um es mit einem Sprung zu überqueren.

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Ist das wirklich unsere Düssel? So schmal, so unsichtbar. Ich bewundere die schöngrünen Wasserpflanzen-Büschel, die sich im Strom winden. Fische? Keine zu sehen. Genau so wenig wie Menschen auf dem Weg. Dazu die drückende Hitze. Lähmend. Wir haben schon seit fünf Minuten nicht gesprochen, und das passiert selten während unserer Flanier-Etappen (Innerer Kritiker: „Du Arsch, jetzt schreibst du schon wieder übers Wetter!“)

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Nach der Brücke verläuft der Weg auf der anderen Düssel-Seite weiter. Keine Bäume mehr, relativ freier Blick. Als wir den Turm der Provinzial-Versicherung sehen, der über den dreistöckigen Altbauten an der Kölner Landstraße in die Höhe ragt, und uns ein tätowierter Mann mit Zigarette im Mund und Schäferhund an der Leine entgegenkommt, flüstert P.: „Guck mal, das ist sicher der Chef-Masseur im Tantra-Studio“.

Das unterdrückte Lachen und ein Windhauch bringen uns zurück in die Realität.

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„Hast du schon gehört?“, frage ich. „Unser alter Kumpel M. ist wieder Single. Hat sich scheiden lassen, ist nun am Wochenende Papa, und in der Woche geht er jeden Tag ins Fitnessstudio und lässt auch sonst nichts anbrennen. Trifft jede Woche ein bis zwei Frauen.“

„M.? Ewig nicht gesehen. Und kommt er zum Zuge?“

„Und ob! Der ist völlig high, seit er sich mit dem Smartphone bei Tinder angemeldet hat. Er sagt, dass sei die späte Entschädigung des Schicksals dafür, dass uns Aids in den 80ern die Teenagerzeit sexuell ruiniert hat.“

„Na ja, meine Dating-App damals war die Ratinger Straße“, meint P. „So schlecht war das nicht.“

„Auf jeden Fall warst du erfolgreicher als ich“, sage ich. „Und heute?“

„Wie heute?! Ich habe keine Zeit, ans Fremdgehen auch nur zu denken, arbeite jeden Tag bis spät, und dann freue ich mich meine Frau und meine Kinder zu sehen.“

„Wer hätte gedacht, dass du mal so redest! In Berlin jahrelang einen auf Panorama-Bar-Hipster gemacht, und jetzt bist du der grundsolide Gartentrampolinwart in einer Reihenhaussiedlung. Immerhin siehst du nicht so aus.“

„Da stehe ich drüber“, sagt P. im Brustton der Überzeugung, doch eine Nuance in seiner Stimme verrät mir, dass er leichte Zweifel daran hat. Mindestens. Dann stellt er auf Ironie-Modus um und haut noch einen Spruch raus: „Kinder statt Tinder!“

„Kinder statt Tinder? Na super! Willst du den Jürgen Rüttgers Creativity Award gewinnen? Vielleicht kannst den Claim ja auch über deine Werbeagentur irgendwem verkaufen.“

„Nee, den behalte ich für mich. Und weißt du, was ich mit dem Claim mache: Ab in den Mülleimer! Der ist selbst für ein drittklassiges Blog wie unseres zu schlecht.”

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Am Ende des Spazierweges erreichen wir die Nixenstraße. Von hier aus werden wir weiterflanieren. So bald wie möglich.

Als wir uns verabschieden, fällt es mir ein: „Letztes Mal hast du mir von irgendeiner tollen Veranstaltung erzählt, die Ende Oktober in Düsseldorf passiert. Und eigentlich wolltest du mir heute verraten, worum es geht?“

„Das Ganze läuft vom 29. Bis 31. Oktober 2015 …“

Ich zucke die Schultern. „Und worum geht’s da?“

„Kann ich dir jetzt nicht erklären. Guck mal bei Facebook!“

„Alter, was soll die Wichtigtuerei!“

„Kann es sein, dass die Hitzewelle Aggressionen in dir freisetzt? Du wirkst schon die ganze Zeit total angespannt.“

„Halt die Fresse! Äh, auf keinen Fall! Tschüss!“

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