(#12) Wandervögel: Ich bin dann mal weg …

in Düsseldorf

Warum aus „Walk your local river!“ niemals eine Jugendbewegung wird / Warum man für DÜSSEL-Schilder gerne Steuern zahlt / Und wie man seiner Frau falsche Bio-Produkte andreht.

Gerade eben hat mein bester Freund P. ein Open-Air-Konzert gegeben, mitten in Düsseldorf-Bilk, Karolingerstraße, auf einer der Brücken über die Düssel. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein.“ Zuschauer: Nur ich, vermutlich. Danach: „Zukunftsvisionen“, von denen ich nicht weiß, ob er sie ironisch oder ernst meint.

Was merkwürdig ist, denn normalerweise, erkenne ich sofort, wie P. tickt. „Walk your local river!?“, sage ich. „Am Fluss entlangflanieren als Jugendbewegung? Mann, was soll denn der Scheiß! Tickst du noch richtig?“

„Total“, sagt P., während wir die Düssel weiter Richtung Aachenerstraße entlangspazieren, vorbei an Dutzenden von angeschlossenen Fahrrädern. „Das müsste man grundsätzlich so wie damals bei den Wandervögeln aufziehen, aber lockerer, ohne Gruppenzwang.“

„Wandervögel? War das nicht so eine Art Jugendgruppe bei den Nazis?“

„Quatsch! Wandervögel, nicht HJ!“, sagt P, tippt etwas in sein iPhone und zeigt mir das Display. Ich überfliege den Wikipedia-Eintrag:

Als Wandervogel wird eine 1896 in Steglitz bei Berlin entstandene Bewegung hauptsächlich von Schülern und Studenten bürgerlicher Herkunft bezeichnet, die in einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte und angeregt durch Ideale der Romantik sich von den engen Vorgaben des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds lösten, um in freier Natur eine eigene Lebensart zu entwickeln. Damit stellte der Wandervogel den Beginn der Jugendbewegung dar, die auch für Reformpädagogik, Freikörperkultur und Lebensreformbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse setzte.

P. grinst sein „Ich bin der Größte“-Grinsen und nimmt den Faden auf, tippt wieder in sein Handy und markiert einen Absatz. „Schau mal, was ich gefunden habe. Diese Wandervögel gibt es heute noch, die haben sogar eine eigene Stiftung.“

Aber dennoch gibt es auch in unserer heutigen Zeit eine ganze Reihe von Zwängen, denen die Jugend unterworfen ist. Man braucht nur einmal Schüler fragen, wie schnell man ins Abseits gelangen kann, wenn man nicht den neuesten Mode- und Musiktrends folgt. Heute ist weniger autoritäre Bevormundung das Problem, sondern vielmehr der Verlust von Orientierungsgrößen, die zunehmende Aufweichung unseres Wertesystems, die ‚Verampelung’ der Gesellschaft, die alles und jedes Überreguliert und damit Freiräume und persönliche Verantwortung des Einzelnen in immer weiterem Umfang beschneidet, Konsumzwänge, und die zunehmende Verdinglichung und Entpersonifizierung des Einzelnen. Beim Wandervogel hingegen ist weiterhin jeder Einzelne wichtig. Es kommt auf die Persönlichkeit an, die bei all den Herausforderungen der Fahrt und des Gemeinschaftsleben wachsen kann.  Mit einem Wertegerüst an der Seite, steter Begegnung mit der Natur, eigener und anderen Kulturen, Musik und Kunst, in Bundesgemeinschaften, die meist Jüngere und lebenserfahrene Ältere umfassen, kann ein junger Mensch reifen, Stärken und Fähigkeiten entdecken und dabei eine Vielfalt erleben, die so umfänglich und ganzheitlich anderswo nur schwer zu finden ist. 

Als ich den Text zu Ende gelesen habe, fragt mich P.: „Na, wie klingt das für dich?“

„Wie ein Pfadfinderverein für Walldorfschüler! An sich nichts dagegen einzuwenden, das kann mehr oder weniger unterschreiben, aber mir klingt es viel zu esoterisch und irgendwie sektenmäßig. Außerdem habe ich bei solcher Art Jugendgruppen sofort den Betreuer vor Augen, der sich an den Mädchen oder Jungen aufgeilt.“

„Genau so ging es mir auch“, sagt P. „Und unter den ersten Google-Treffern zu `Wandervogel´, findet man in der Tat das hier.“ Er klickt auf einen Link und zeigt mir einen Artikel aus der taz.

„Eben!“, sage ich. „Ich würde meine Kinder da nie anmelden, genauso wenig wie bei den Pfadfindern oder sonsteinem Verein aus der Liga. Ich hätte da immer ein ungutes Gefühl …“

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Inzwischen sind wir an der Aachenerstraße angekommen. P. Zeigt auf die „Düssel“-Schilder, die vor einiger Zeit an fast allen Düsseldorfer Düssel-Brücken neu angebracht worden sind. „So legt man Steuergelder vernünftig an!“ Er schaut auf die Uhr. „Mist, schon spät, und ich hab meiner Frau versprochen, mittags schnell noch im Bioladen einzukaufen.“

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„Ist deine Frau immer noch auf dem Bio-only-Trip?“

„Ganz schlimm, das kostet uns ein paar Hundert Euro im Monat extra. Ich meine: Gesund ernähren ist ja gut und schön, aber die Preise! Hallo,ich habe einfach keinen Bock, für eine Flasche O-Saft bis zu 3,50 Euro auszugeben. Oder 5 Euro für zwei Paprika.“ Er knipst ein Auge zu. „Obst und Gemüse besorge ich normalerweise bei Rewe oder Real, mache die Etiketten und die Verpackung ab und präsentiere ihr das dann als 1A-Bio-Ware.“ Er fährt im Liebevoller-Ehemann-Ton fort: „Schau mal Schatz, ganz frisch und noch nicht mal eingeschweißt.“

„Betrüger!“, sage ich.

„Ich?!“ P. runzelt in gespielter Entrüstung die Stirn, guckt noch einmal auf die Uhr, wendet sich ab, spaziert die Aachener hoch Richtung Bio-Supermarkt, dreht sich um. „Nee, weißt, das mit der neuen Wanderbewegung stell ich mir ganz anders vor: Auf keinen Fall pfadfindervereinsmäßig. Eher mit so kleinen, autonomen Zellen – wie bei Al Quaida, nur ohne Terrorismus und ohne Ideologie.“ Er guckt triumphierend, wahrscheinlich, weil er seinen Vergleich gelungen findet. „Das müsste eine Modewelle werden, bei der sich junge, nicht mehr ganz so junge, ja eigentlich alle Leute am Wochenende treffen und den Fluss oder Bach in ihrer Heimatstadt oder ihrem Heimatort abwandern. Flussaufwärts, so wie wir. Allein, zu zweit, in Gruppen – jeder wie er mag. Mit jeder Etappe, wird man schlauer – auch wenn man das wahrscheinlich erst Jahre später merkt.“ Und dann kommt wieder der Werbefuzzi in ihm hoch: „Walk your local river!“

„So etwas wie Pilgern zu sich selbst, aber ohne Religion?“, frage ich.

Mein bester Freund P. nickt im Gehen.

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„Na, dann treffen wir uns am besten weiter so oft wie möglich zum Düssel-Flanieren. Nächste Woche wieder, gleiche Zeit, hier vor dem Bunker?“ Er dreht sich erneut um, ich zeige auf die  bunte Fassade an der Ecke Aachener / Karolinger.

„Geht klar, am besten trinken wir vorher einen Kaffee im Ugly. Lass uns telefonieren! Ich bin dann mal weg …“

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