Das Debütalbum von Dschinghis Khan
Das Debütalbum von Dschinghis Khan (1979)

Ein Dillon-Moment ohne Dschinghis Khan

in Kurzgeschichten/Popkultur

Im Auto. Ich fahre, meine Tochter (8) sitzt hinten. Für drei Sekunden bleibe ich bei 1live hängen. Es läuft ein Song mit Bumm-Bumm-Rhythmus und gnadenlosem Mitsing-Refrain. So gewollt fröhlich-sommerlich, so fließbandproduziert, so unverhohlen auf die Charts schielend, klingt das, dass ich es kaum ertragen kann. Schnell schalte ich weiter.

Doch meine Tochter protestiert: „Papa, ich möchte das hören!“
 
Überrascht drehe ich mich um: „Wirklich?“
 
„Ich finde das Lied gut!“
 
Also zurück zu 1live. Da muss man durch.
 
Anschließend die kindliche Nachfrage: „Und wie fandest DU das Lied?“

Nun ist es wohl eher keine väterliche Aufgabe ohne Umschweife zu sagen, dass man ein vom Nachwuchs gern gehörtes Lied für kommerziellen Scheiß hält (vermutlich ist das erst nach dem 16. Lebensjahr erlaubt, ich sollte mal Jesper Juul fragen). Aber lügen muss man ja auch nicht.
 
„Mir gefällt das Lied gar nicht“, sage ich. Und eigentlich will ich auch noch anfügen, dass ich generell keine Mitsing-Lieder mag, aber das lasse ich, weil es so negativ klingt und weil es sein könnte, dass es gar nicht stimmt.
 
„Welches Lied gefällt dir denn?“, fragt die 8-Jährige, und in diesem Moment erinnere ich mich, dass ich selbst mit acht Jahren, 1979, natürlich auch Musik aus dem Radio gehört habe. Sehr gerne zum Beispiel das Lied „Dschinghis Khan“ der Schlager-Combo Dschinghis Khan. Den Refrain habe immer noch im Hinterkopf. Er lautet:
 
Dsching, Dsching, Dschinghis Khan – He Reiter – Ho Leute – He Reiter – Immer weiter! Dsching, Dsching, Dschinghis Khan
 
Am Abend möchte ich meiner Tochter ein „cooles“ Lied zum Mitsingen vorstellen. Etwas, das mir richtig gut gefällt und nicht bei EinsLive läuft (zumindest nicht tagsüber). Passenderweise bin ich am Tag zuvor auf Spotify beim Hören der aktuellen Songs der Sängerin Dillon – einer Berlinerin mit kölsch-brasilianischer Vergangenheit – auf ihr 2016er-Album „Live at Haus der Berliner Festspiele“ gestoßen. Auf diesem Album gibt es einen der berührendsten Mitsing-Momente der jüngeren Pop-Geschichte: Dillon stimmt ihren Song „Tip Tapping“ an, und das Publikum erkennt ihn schon nach den ersten Takten und jubelt. Daraufhin Dillon: „Ich sing´s euch vor, und dann singen wir es zusammen.“
 
Der Refrain geht so:
Tip tapping – I was tip tapping In the dark – Tip tapping – I was tip tapping – In the park

Nachdem ich mit meiner Tochter den Song zwei Mal bei Spotify gehört habe, finde ich auf YouTube einen Videomitschnitt desselben Konzerts: Dillon singt „Tip Tapping“ (im Clip ab Min. 4:00) gemeinsam mit den Frauen im Publikum, dann gemeinsam mit den Männern im Publikum, und schließlich mit allen zusammen, und es ist ein intimer Moment. Im Video ist auch das mitsingende Publikum im bestuhlten Saal zu sehen. Alle lächeln. Es ist kein normales Lächeln. Es ist ein Ich-erlebe-gerade-etwas-Besonderes-Lächeln.

 
„Papa, was findest du so schön an dem Lied?“, fragt die 8-Jährige, nachdem wir den Laptop zugeklappt haben.
 
Ich schweige, suche nach den passenden Worten. „Weißt du“, sage ich dann, „was wir heute im Auto auf Einslive gehört habe, das ist MC Donald´s, und das, was wir gerade gehört haben, das ist … ein besonderes Restaurant, das schwer zu finden ist.“
 
Ein Tag später: Die musikalische Früherziehung scheint zu wirken. Meine Tochter hat einen „Tip Tapping“-Ohrwurm, singt ständig den Refrain, versucht Dillons außergewöhnliche Stimme zu imitieren. Jetzt schläft sie – während ich mich frage, ob es nicht ein wenig eitel ist, sich als Nicht-mehr-Einslive-Hörer und vermeintlicher Ich-habe-einen-Indie-Geschmack-„Gourmet“ zu inszenieren. Schließlich habe ich auch eine Schwäche für 1980er Italo Disco und den Hamburger Royal TS.
 
Und dann ist er plötzlich wieder da – dieser Kindheits-Refrain, der mich seit gestern verfolgt:
Dsching, Dsching, Dschinghis Khan – He Reiter – Ho Leute – He Reiter – Immer weiter! Dsching, Dsching, Dschinghis Khan

Den YouTube-Clip dazu muss ich meiner Tochter auch mal vorspielen – allein schon wegen der Kostüme der Bandmitglieder. Und ich muss gestehen: So schlecht finde ich den Song gar nicht. Eigentlich finde ich ihn sogar ganz gut … 😉

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