Rainer Bartel, Chefredakteur des Online-Magazins THE DÜSSELDORFER, erzählt vom Spielrevier seiner Kindheit zwischen Corneliusstraße und Volksgarten in den 1950er und 1960er Jahren.
Es hieß einfach: Wir gehen an die Düssel. Das war einer unserer bevorzugten Spielplätze. Damals in den Fünfzigerjahren. Wir ahnten nicht, dass es den schmalen Fluss auch noch woanders in der Stadt gab: Für uns war das Stück zwischen der Post an der Heresbachstraße und der Ballonwiese im Volksgarten einfach „Die Düssel“. Besonders natürlich der Abschnitt zwischen Mecumstraße und dem Hennekamp. Das war unser Revier. Und zwar nur das – bachabwärts betrachtet – rechte Ufer. Denn die andere Seite war für uns nicht zugänglich.
Anfangs gab es die Gurlittstraße noch gar nicht. Drüben war Brachland, teilweise mit Maschendraht gegenüber der Düssel versperrt. Wo heute die kleine Hundewiese zu finden ist, stand das Hexenhaus. Tatsächlich wohnte dort eine alte Dame, deren Schatten man höchstens manchmal hinter den Büschen erahnen konnte, in einer Art Gartenlaube. Wir fürchteten sie und mieden diese Ecke weiträumig.
Im Sommer waren die Düssel und der Volksgarten unser Abenteuerspielplatz. Wobei: Irgendwann so um 1958 herum richtete die Stadt vor der Ballonwiese den Wasserspielplatz ein, den unsere Bande übernahm. Was heißt schon Bande? Ächte Düsseldorfer würden sagen: „dä Pänz von dä Corneliusstrooß“. Das waren wir. Allein in der Hausnummer 118, wo ich die ersten zehn Jahre meines Lebens verbrachte, lebten damals vierundzwanzig Kinder. Wir waren zu dritt, genau wie die F‘s. Familie P. hatte sieben oder acht Kinder, und Frau K. sogar zehn. Es hieß, keine zwei davon hätten denselben Vater.
Und so sah es in den Häusern zwischen Oberbilker Allee und Bahndamm überall aus. In jenen Jahren wurde die Corneliusstraße gerade verbreitert. Drüben wurden die Trümmerhäuser weggerissen, in denen wir mit vollem Risiko gespielt hatten. Jetzt blieb uns die Düssel. Wir verabredeten uns nach Alter sortiert. Außer in den Fällen, wo die Älteren den klaren Auftrag der Mutter hatten, auf die Kleinen aufzupassen. Aber selten zogen wir mit weniger als einem Dutzend Pänz los.
Meistens wanderten wir die Erasmusstraße entlang und bogen dann in die Feuerbachstraße ein. Dort begann der sandige Weg entlang der Düssel. Gleich an der Sandsteinbücke, deren Gegenstück der Verbreiterung der Straße hatte weichen müssen. Drüben ging die Düssel weiter, aber auch dort war das linke Ufer nicht zugänglich – die Mauern der Papierfabrik reichten bis an die Böschung. Auf unserer Seite war diese Böschung steil und mit Gebüsch zugewuchert. Deshalb verzichteten wir auf diesen Abschnitt.
Einer dieser Sommer war wochenlang brüllend heiß. Standardkleidung für Jungs war damals die Lederhose – aus steifem, schnell speckig werdendem mit ledernen Hosenträgern, die vor der Brust miteinander verbunden waren. Das war die Hose, von der niemand sagte: Mach dich nicht schmutzig. Im Gegenteil. Meist trugen wir nur die Lederbux, nichts drunter. Und dann diente sie auch als Badehose.
Natürlich stiegen wir in den Bach mit seinem klaren, kühlen Wasser, das sich im Schatten der Bäume auch an heißen Tagen nicht aufheizte. Zum Schwimmen war der Wasserstand zu niedrig: Selbst Dreijährigen, sofern sie denn schon mitdurften, ging das Wasser kaum bis zum Hosenbund. Wir hatten sowieso immer was zu tun. Zum Beispiel Dämme bauen.
Jeder ältere Junge hatte natürlich ein Taschenmesser, mit dem er und seine Kumpel Äste abschnitten und zurechtmachten. Wie die Biber setzten wir Pflöcke ins Bachbett und verbanden sie mit Zweigen zu einer Art Korbgeflecht. Das wurde mit Schlamm – wir sagten dazu Matsche – eingeschmiert, um es undurchlässig zu machen. Und spätestens am nächsten Tag hatte sich der Pegel der Düssel um einen halben Meter erhöht.
Erwachsene traf man dort selten. Höchstens diesen einarmigen Kriegsversehrten, der selbst bei trockenem Wetter einen Regenmantel trug. Oder die drei älteren Damen, unglaublich altmodisch gekleidet, die dort gern spaziergingen. Trotzdem waren wir immer auf der Hut, weil wir wussten, dass unsere Bauten illegal waren. Und wenn Wachtmeister Schumacher, der an der Kreuzung Oberbilker Allee mit der Corneliusstraße Dienst tat, uns erwischt hätte … nicht auszudenken.
Die vernünftigeren unter den älteren Jungs sorgten auch immer dafür, dass die Dämme rechtzeitig eingerissen wurden. Für die Halbstarken, also die Burschen von sechszehn, achtzehn Jahren war das alles Kinderkram. Die hatten Spaß an gefährlicheren Sachen. Als die Trümmer noch standen, sprengten sie dort gern ganze Wände mit Karbid weg.
Oft lungerten sie auch am Trafohäuschen herum, dass an der Ecke Feuerbach- / Mecumstraße direkt an der Düssel stand. Sie rauchten ununterbrochen, lasen Sigurd- und Akim-Heftchen, die sie im Schreibwarenladen an der Ecke zur Kirchfeldstraße geklaut hatten, und schmiedeten Pläne. Für groben Unfug waren die Kerle, zu einem Drittel Söhne der Familie P. aus unserem Haus, immer zu haben. So kam es, dass eines Abends – es muss im Frühherbst gewesen sein – das Umspannhaus in hellen Flammen stand.
Der Skandal beschäftigte das Viertel noch wochenlang. Die Feuerwehr hatte einige Probleme beim Löschen gehabt, und die Kriminalpolizei befragte Dutzende von Leuten. Aber obwohl die Nachbarschaft natürlich ahnte, wer das Ding angezündet hatte, hielten alle dicht.
Im Gegensatz zu heute, wo Neozoen wie der Signalkrebs alles wegfressen, was lebt, war unsere Düssel damals ein echtes Biotop. Gehalten haben sich die Bisamratten, die in Höhlen unter den Uferkanten leben. Damals sah man sie ruhig durch den Bach schwimmen und nach Nahrung Ausschau halten. In den Nullerjahren hatte das Rudel einen König – ein großes Exemplar, das aber blind war. Der schwamm furchtlos umher und sonnte sich bei schönem Wetter im Gras am Ufer unterhalb der Studentenwohnheime.
Jede Menge Fische gab es und Frösche. Zu den Hauptaktivitäten zählte daher das Einfangen. Wir schwatzten der Mutter einen Nylonstrumpf ab, schnitten den Fuß davon ab und befestigten ihn an einem Drahtring mit einem ebenfalls aus Draht geformten Stiel. Fertig war der Kescher. Damit gingen wir auf die Jagd nach Kaulquappen und Stichlingen, die in der Düsseldorfer Mundart Stachelditzkes heißen. Hatte man ein, zwei schöne Exemplare gefischt, kamen die in ein mit Düsselwasser gefülltes Glas und wurden mit nachhause genommen.
Spätestens am dritten Tag mussten wir den armen Fischen auf Befehl der Eltern wieder ihre Freiheit geben. Bei den Kaulquappen hatten wir ein paar Tage mehr. Aber deren Verwandlung, das war Gesetz, musste an und in der Düssel stattfinden.
Wie schon erwähnt: Der Abschnitt zwischen Erasmusstraße und Hennekamp war unser Revier. Da kamen auch die gefährlichen Burschen von der Hildebrandtstraße nicht hin, die uns sonst so oft bedrohten und angriffen. Denen begegneten wir schlimmstenfalls im Volksgarten. Deshalb gingen wir dort auch nie allein oder in kleinen Gruppen hin.
Das Ende unserer Welt war das Ostende der Ballonwiese. Dort gab es einen Jägerzaun, dahinter erstreckten sich Brachland, auf dem ein paar illegal errichtete Häuser samt Gärten zu sehen waren. Nie hat jemand von uns diesen Zaun überklettert. Es galt als lebensgefährlich. Irgendwer hatte nämlich erzählt – und dies entspricht ja den historischen Tatsachen –, dass dort früher eine Munitionsfabrik gestanden habe und überall im Boden Sprengsätze steckten, die in die Luft flögen, wenn man sie berührte. In Wahrheit wurde auf dem Gelände schon seit dem Ende des Erste Weltkriegs nicht mehr mit Schießpulver hantiert.
Im Volksgarten war nur das linke Ufer der Düssel zugänglich. Zwischen dem Bahndamm und dem rechten Ufer gab es Massen völlig
undurchdringlichen Gestrüpps voller Dornen und Stacheln. Hauptattraktion war außer dem Wasserspielplatz das Büdchen an der Unterführung zur Emmastraße. Dort konnte, wer ein bisschen Geld hatte, Süßigkeiten erwerben. Und bei großem Durst das beliebte Kugelwasser. Dabei handelte es sich um Wasser ohne Kohlensäure, das in einer Flasche abgefüllt war, die mit einer Glaskugel verschlossen war.
Der Büdchenmann hatte einen speziellen Öffner, mit dem die Kugel in die Flasche gedrückt wurde, sodass die Öffnung freigegeben war. Natürlich hatten die Halbstarken, wenn sie sich uns denn einmal anschlossen, mehr auf Tasche und kauften Coca Cola und Zigaretten. Und natürlich Kaugummi, denn ohne das sah man sie selten. Wenn sie mitkamen, dann, weil sie auf der Ballonwiese Fußball spielen wollten. Dort trafen sich Jugendliche aus Friedrichstadt, Bilk und Oberbilk.
Während die Kerle kickten, hockten die Mädchen unter den Bäumen und tratschten. Wir Kinder durften auch zugucken und den Ball holen, wenn
der das imaginäre Spielfeld verlassen und bis an die Düssel gerollt war. Hätten wir einen Fußball gehabt, hätten wir sicher auch dort gekickt. Aber solch ein Lederball war ein Luxusgegenstand, den zumindest von unseren Corneliusstraßen-Pänz keiner besaß.
1962 zogen wir in eine Neubauwohnung an der Tussmannstraße in Pempelfort und eroberten andere Spielmöglichkeiten. Über die Jahre verlor ich „unsere Düssel“ aus den Augen. So bekam ich die vielen Veränderungen erst viel später mit. Zum Beispiel als ich eine Freundin hatte, die in einem der Studentenheime an der Gurlittstraße wohnte. Da hatte man auf dem linken Ufer gleich neben dem großen Parkplatz einen Spielplatz angelegt, und ein neuer Weg führte an der Wiese vom Hexenhaus vorbei, das längst nicht mehr dort stand.
2002 zog ich wieder ins Viertel. Seitdem gehe ich beinahe jeden Tag an unsere Düssel, denn hier führe ich den Hund aus. An den Wochenenden herrscht auf dem Weg unterhalb der Böschung heutzutage Verkehr wie auf der Autobahn: Dutzende Jogger laufen entlang, Radfahrer rasen mehr oder weniger rücksichtslos – und eigentlich illegal – dort entlang. Eltern mit Kinderwagen und Spaziergänger schlendern in Richtung Volksgarten. Bei schönem Wetter tragen die Leute Grills und Gartenmöbel, und die Halbstarken schleppen Bierkästen in den Park.
Aber wenn es im Winter regnet, dann treffen der Hund und ich unter Woche manchmal keine Menschenseele dort an der Düssel. Dann ist der Weg unter den verbliebenen alten Bäumen immer noch ein beinahe verwunschener Ort.